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Welt Print Chaos und Intelligenz

Bitte nicht aufräumen!

Verantwortliche Redakteurin
Chaos und Genie hängen zusammen - das weiß der Volksmund seit Langem. Nun haben Wissenschaftler diesen Verdacht bestätigt. Nur ein unordentlicher Schreibtisch ist also Ausweis echter Kreativität: Bitte nicht aufräumen!

Anarchie hatte nie eine Chance. Nicht bei der Konkurrenz der großen politischen Systeme wie Feudalismus, Kommunismus, Demokratie. Chancenlos ist die Anarchie als Ordnungssystem auch im Kleinen geblieben; wie auf dem Schreibtisch von Edith Storck. Die ehemalige Sekretärin sorgt inzwischen als Unternehmensberaterin beruflich für Ordnung in Büros - nicht mehr in ihrem, sondern nur noch in fremden. "Wer auf dem Schreibtisch stapelt", sagt Storck, "hat ein ungelöstes Problem." Bis zu drei Tonnen Papierkram mistet sie aus in einem 20-Mann-Großraum. Locker, wie sie sagt.

Profi-Aufräumer - das ist ein etabliertes Geschäft: Einige Hundert gibt es inzwischen in Deutschland. In den USA gibt es mehr als 4000. Ihr Glaube: Der chaotisch getürmte Sauhaufen ist eine pathologische Größe, weil er für jeden sichtbar den Anschein von Konzentrationsfähigkeit, Seriosität und Unternehmenskultur verdirbt. Chaotische Schreibtische sind übel beleumundet. Dagegen halten die Sauberprofis große Stücke auf kantengenaues Ausrichten von DIN-A4-formatigen Ablageschriften und - besser noch: leere, blitzende Flächen.

Ein Irrtum, sagen Psychologen.

Neun Minuten. Wie zahlreiche Studien belegen, ist das die Zeit, die der durchschnittliche Büroarbeiter täglich damit verbringt, nach Verlegtem zu kramen. Bei einer Arbeitszeit von acht Stunden täglich kostet uns die Unordnung also kaum mehr eine Minute pro Stunde. Das Verblüffende an den Untersuchungen: Wer sich ein rigides Ordnungssystem auferlegt, schneidet sogar noch schlechter ab. "Aufräumer suchen im Schnitt 36 Prozent länger nach ihren Zetteln", schreiben Eric Abrahamson, Professor der New Yorker Columbia University, und Journalist David Freedman in dem Buch "Das perfekte Chaos". Denn wer abheftet, sammelt Ordner, die wiederum ordentlich systematisiert werden müssen, damit sie anschließend auch noch ein bisschen aktenkundlerischen Bibliothekarsstolz abwerfen können. Und so etwas kostet noch einmal viel Zeit.

Zeig mir deinen Schreibtisch - und ich sage dir, wer du bist: Die Arbeitsplatte spaltet die Menschheit in zwei Typen: den assoziativen, der das Chaos liebt, und den rationellen, der sich dreifache Befriedigung und Sicherheit verschafft. Durch Stempeln, Lochen, Heften, neuerdings durch Scannen, Anlegen, Speichern.

Typ zwei, Kategorie Ratio, kommt Stephan Grünewald vom Kölner Marktforschungsinstitut Rheingold schwer verdächtig vor: "Das System ist eine künstlich-synthetische Ordnung ", sagt der Psychologe. Es sei eine Täuschung, dass der aufgeräumte Schreibtisch höhere Seriosität und Glaubwürdigkeit symbolisiere. Das Durcheinander, sagt Grünewald, enthalte höheren Sinn: "Auf einem leeren Schreibtisch findet sich selten eine gute Idee." Am produktivsten arbeite jeder Mensch im höchstpersönlich entwickelten, individuell angepassten Chaos. "Unordnung ist Zeichen eines gelebten Lebens", sagt der Psychologe. Grünewald sieht jene auf Abwegen, die Stapel nur als einen Haufen Papier verstehen: "Jeder einzelne Zettelberg kann die Mahnung unerledigter Pflichten sein. Viele Menschen brauchen das."

Auch Sigmund Freud war bekennender Kreativchaot - er kannte die Chancen, die aus der Unübersichtlichkeit erwachsen: Freud war entschieden gegen ordosystematische Klar-Schiff-Schreibtische. Nicht nur seine Couch, auch sein Schreibtisch ist Kult: Auf Freuds Akten, Zettel und Bleistifte schauten antike Heiligenfigürchen kummervoll herab. Freud hat sie gesammelt - und dachte nicht daran, sie ordentlich wie eine Armee Soldaten aufmarschieren zu lassen. Er verteilte sie kreuz und quer in wirrem Muster über den Tisch; ein Anblick, der ihn inspirierte.

Sind chaotische Menschen intelligenter? Psychologen der Universität Gießen stellten bei deutschen Versicherungsvertretern fest: Für weniger intelligente Vertreter war die sortierte Schreibtischplatte so essenziell wie der fusselfreie Zweireiher - sie arbeiteten besser bei genauer Planung und geregelten Alltagsabläufen. Die Intelligenteren dagegen waren umso effektiver, je mehr ihr Büro einem alternativen Kinderhort glich.

Viele Psychologen behaupten, dass kreative Menschen chaotischer sind. Warum das so ist und was sich hinter dem "göttlichen Chaos" verstecken könnte, hat die Psychologin Shelley Carson von der amerikanischen Harvard University in einem Experiment untersucht. Die Wissenschaftlerin prüfte die Fähigkeit ihrer Studenten, Nützliches und Abwegiges voneinander zu trennen. Nicht in Zettelbergen, sondern bei Geräuschen. Die Psychologin spielte ihren Testpersonen sinnlose Wortsilben vor, die sie zählen sollten. Hin und wieder tauchte ein Störgeräusch auf, es lenkte ab und erschwerte die Sache - am besten, man ignorierte es einfach.

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Im zweiten Teil des Tests brachte die Psychologin ihre Probanden vor einem Monitor in Stellung - mit der Aufgabe, auf ein blitzartig aufscheinendes Signal auch blitzartig zu reagieren. Auch diesmal wieder mit störenden Zwischengeräuschen, allerdings so gelegt, dass sie unmittelbar das Signal ankündigten. Der nervende Ton machte Sinn. Die meisten Probanden begriffen das nicht, sie blendeten die Geräusche aus wie zuvor: "Normale Menschen hören das Störgeräusch im Test gar nicht mehr, weil sie es als unbedeutend abtaten", sagt die Harvard-Forscherin Carson. Andere nutzten das lästige Geräusch auf Anhieb. Es waren jene Probanden, die sich zuvor in Tests als besonders kreativ hervorgetan hatten.

In diesem Punkt hat Kreativität eine unangenehme Nähe zur Schizophrenie. Sowohl Schizophrene als auch Kreative haben, wie es scheint, die Neigung, alle Reize, die in ihr Gehirn eintreffen, unsortiert als gleichwertig wahrzunehmen. Risiken und Nebenwirkungen eingeschlossen: Die Gefahr ist, in der Reizüberflutung unterzugehen, mit Denkstörungen und Halluzinationen, den beiden Kardinalsymptomen der Schizophrenie. Den Kreativen gelingt es dagegen, das Chaos zu nutzen. Bis heute ist noch ungeklärt, wie dies geschieht. Vermutlich spielen Intelligenz und ein gutes Gedächtnis als Hauptfaktoren mit.

Dass Genialität und Chaos praktisch unzertrennlich sind, ist unter Hirnforschern eine Selbstverständlichkeit: Eines der chaotischsten lebenden Systeme überhaupt ist das menschliche Gehirn. Es gibt kein Zentrum, keinen Dirigenten, der die Geistesströme steuert. Trotzdem laufen die Hirnfunktionen sortiert und geordnet ab - wie im Chaos eines Bienenstocks. Das menschliche Gehirn ist nicht computerhaft festgelegt geordnet, es organisiert sich selbst, in einem gleichsam demokratischen System. Nervenzellen senden Impulse und Botenstoffe aus, Nervenbahnen formen sich spontan wie Ameisenstraßen. Sie bilden so Muster, die vorübergehend nützlich, im nächsten Augenblick wieder aufgelöst und danach sofort neu zusammengesetzt sind. Dass sich also Einfallsreichtum, Originalität und die Fähigkeit zu klugem, beziehungsreichem Denken beim Anblick eines wüsten Schreibtischgebirges unterstellen lassen - das ist für Neurologen ganz normal. Wer sich das Chaos verwehrt, verrät seine eigene Natur.

Erst recht kontraproduktiv wirkt im Büro ein Aufräumzwang. Wo alle Mitarbeiter abends einen leer gefegten Schreibtisch hinterlassen müssen, hebt das zwar die ästhetische Empfindung. Firmen wie die Werbeagentur Springer & Jacobi, der US-Autobauer General Motors oder das Logistikunternehmen United Parcel Service legen darauf Wert. "Aber so etwas hat mit natürlicher Ordnung nichts zu tun", warnt Grünewald, "viele Menschen stürzt diese Pflicht erst recht ins Chaos. Genauso wie jene, die ihren Tag bis ins Detail planen und dann von Außerplanmäßigem überrascht werden."

Dieses Prinzip gilt übrigens auch für Organe wie das Herz. Nicht das Chaos kann gefährlich werden. Aber ein Übermaß an Ordnung. Es klingt paradox, ist aber gesicherte Erkenntnis, dass allzu regelmäßig pulsierende Herzen infarktgefährdet sind. Das hängt mit der Bereitschaft des Herzens für schnell und radikal einsetzende Leistungsänderungen zusammen - und wenn es auch nur das Herzklopfen nach drei Treppenabsätzen ist. Wird das Herz in gleichförmigen Bewegungen gehalten, verliert es seine Anpassungsfähigkeit.

Chaos ist nie Chaos. Es hat immer System. Es waren die Naturwissenschaften, die als Erste entdeckten, dass das Chaos von einer strengen Struktur geordnet ist, den "chaotischen" Naturgesetzen. Ob es nun um die Anordnung der Sterne im Universum, das Streifenmuster im Fell eines Zebras, die Folge der Schaltungen in unseren Nervenzellen oder die Form der Wirbel von Milch in einer Kaffeetasse geht: Was auf den ersten Blick nur Zufall zu sein scheint, hat seine Regelmäßigkeit.

Chaos, sagen die Chaostheoretiker, ist nicht das wüste Nichts. Es ist nur vielfältiger, verwickelter, reicher und dynamischer als die primitiven Schemata ausgedachter, selbst entwickelter Systeme. Im Chaos wirkt alles auf alle gegenseitig, unaufhörlich, immer wieder verändert aufeinander ein.

Die Ordnung als Begriff hat seit Kindertagen keinen guten Klang. Sie war immer mit einer Mahnung verbunden, selten hatte sie dagegen mit Lob zu tun. Trotzdem sehnen sich Menschen, die im Chaos leben, nach Überschaubarkeit. "Ordnung suggeriert, dass alles in Ordnung ist", sagt Grünewald, "dieses sichere Gefühl wollen viele mit einem aufgeräumten Schreibtisch beschwören. Sie heften in der Hoffnung ab, den Kopf frei zu bekommen." Für Abraham und Freedman ist Ordnung für alle kaum zu gebrauchen. Ordnung und Unordnung, Planbarkeit und Komplexität, Bürokratie und Kreativität - das sind Dinge, so individuell wie jeder Fingerabdruck. Das Ziel des perfekt organisierten Chaos ist erreicht, wenn der Mensch sich frei das Chaos erschaffen darf, das er liebt.

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